Ein Essay über Komplexität und das Leben
Mein vor wenigen Tagen veröffentlichter Artikel über Komplexität und das Leben hat ein sehr intensives Echo hervorgerufen. Mehr Artikelzugriffe als üblich und vor allem eine spannende Diskussion, herzlichen Dank an: Ralf Lippold, Organizational Thinking, Frank Weniger, Vera F. Birkenbihl – Akademie Potsdam, Jo Spelbrink, Inspirator im Web 2.0, und Thomas Menk, Intuitions- und Innovationsentwicklung für anregende Kommentare!
Dabei war es nur einmal der erste Teil. Hier geht es weiter mit Gedankenskizzen über die Komplexität und das Leben. Ich freu mich auf weitere Dialoge!
Ganz nebenbei gefragt, was ist Komplexität?
Spät kommt diese Frage und eine Antwort finden Sie z.B. auf Wikipedia, einem Ort enorm hoher Komplexität. Ohne wissenschaftlichen Anspruch würde ich sagen: Die Komplexität eines Systems ergibt sich aus seiner Anzahl an Elementen, deren Vielfalt, den Verbindungen zwischen den Elementen, der Art der Zusammenhänge (linear, nicht linear), den Kommunikationsgeschwindigkeiten und – so würde ich gerne ergänzen – aus der Form und Art seiner Energie- und Stoffströme.
Die Stadt als komplexes System
Eine Stadt beispielsweise ist ein komplexes System. Ihre Komplexität steigt mit der Anzahl der Menschen, Gemeinschaften, Organisationen, Unternehmen, deren Verschiedenheit, sie steigt mit den Verbindungen und mit der Geschwindigkeit der Kommunikation.
Das obere Limit der Komplexität einer Stadt wird sichtbar erreicht, wenn Teile des Systems den Anschluss verlieren und in chaotische Zustände verfallen, sich also Slums bilden, soziale Randgruppen entstehen, Verkehrszusammenbrüche das Stadtbild prägen, sich Müllberge auftürmen, die Versorgung nicht mehr gewährleistet ist, usw. All das sind Störungen der Komplexität.
Komplexitätssimulanten sind gefährdet
Anhand einer Stadt kann ich einfach erklären, warum ich unsere Systeme – damit meine ich auch unsere Gesellschaft, unseren Wirtschaftsraum, unser Finanzsystem, kurz die westliche Zivilisation – für extrem gefährdet halte. Wir meinen sehr komplexe Welten aufgebaut zu haben und sind stolz auf unsere Kulturleistung. Aber sind wir von wahrer Komplexität umgeben?
Gestatten Sie mir dazu eine einfache Frage: „Was bleibt von der westlichen Zivilisation an haltbarer Komplexität über, wenn wir die Energiezufuhr aus fossilen und atomaren Brennstoffen unterbinden? Wie lange würde uns das totale Chaos des Zusammenbruchs erspart bleiben? Sind es Tage oder Wochen?“.
Evolution und Komplexität
Die Evolution nährt ihre Komplexität (der Ökosysteme, der Lebewesen, des Menschen, …) aus nachhaltigen, solaren Energiequellen. Der Einsatz fossiler und atomarer Energiequellen ist ein „Betrug“ an der Evolution und das kann nur zu „simulierter Komplexität“ führen.
Daraus resultiert für mich die große Gefahr. Wenn wir nicht einen Komplexitätstransfer schaffen, und die simulierte Komplexität auf eine solare Basis einer nachhaltigen Wirtschaft stellen, sind uns die Zusammenbrüche vieler unserer Systeme sicher. Wenn sich eine Gesellschaft lange über ihre simulierte Komplexität erfreut, beginnt der letzte Tango auf der Titanic.
Wie im Großen so im Kleinen
Was wir auf der Ebene der Gesellschaft erkennen können, finden wir auch bei uns Menschen selbst. Gerade, weil wir simulieren, fühlen wir uns der Komplexität des Lebens nicht gewachsen. Beim Menschen ist die Sachlage wohl nicht auf seine Energiezufuhr zu beschränken.
Nur ein reifer Mensch, der zu sich selbst gefunden und das Spiel der Formenwelt erkannt hat, der seinem Ego auf der Spur ist und seine Gedankenmaschine beobachten kann, kurz, ein reflektierter Mensch, ist in der Lage, mit der Komplexität des Lebens freudig zu spielen. Nur wer mit genügend Vertrauen in sich selbst, in die Menschen, in eine gute Entwicklung und in die Zukunft ausgestattet ist, erträgt die Fülle des Lebens.
Wer sich aber in der Formenwelt verliert, sein Leben mit unnötigem Ballast auflädt, sich dem Leistungsdruck der Gesellschaft ergibt, kann nur so tun als ob, er kann nur simulieren. Dieser Belastung aber sind wir Menschen nicht gewachsen. Das Leben ist nur für die wahre Komplexität geschaffen. Der einzige Ausweg scheint die Reduktion zu sein. Das obere Limit der Komplexität, die ein Mensch erträgt ist somit in erster Linie eine Frage der Bewusstseinsentwicklung.
Was wir fühlen und was wirklich ist
Ein System – beispielsweise eine Organisation in der wir arbeiten – hat einen gewissen Grad an Komplexität. Als Mensch sind wir Teil dieses Systems und bestimmen seine Komplexität mit unserem ganzen Handeln mit.
Wie ich nun als MitarbeiterIn oder Führungskraft die Komplexität der Organisation erlebe, hängt stark von mir selbst ab und wird daher von Mensch zu Mensch sehr verschieden sein. Je nach dem, wie ich mich als Mensch entwickelt habe, finde ich die Komplexität des Systems nährend und anregend oder unerträglich. Wir müssen also eine wichtige Unterscheidung treffen:
Es gibt eine Komplexität des Systems, dessen Teil wir sind, und es gibt die von uns individuell wahrgenommene Komplexität des Systems, abhängig von meinen Fähigkeiten, Komplexität zu managen.
Was Menschen lieben
Ein Mensch, der sich gerne in Sicherheit wähnt und der es genau wissen will, was auf ihn zukommt, der wird schon recht geringe Komplexitätsgrade als sehr belastend empfinden und nach Methoden zur Reduktion suchen. Ein Mensch hingegen, der gerne mit Vielfalt spielt und ein hohes Maß an Improvisationskunst mitbringt, wird beim selben Komplexitätsgrad noch freudig durchs Leben gehen.
Ich kann also nun meine aufdestillierte Essenz so formulieren:
Wir leben in einer komplexen Welt. Der Grad der Komplexität unserer Welt steigt ständig. Wir Menschen können uns nur damit befassen, wie wir besser mit Komplexität umgehen lernen. Eine Vereinfachung der Komplexität (eine Reduktion) kann nur kurzfristig eine Erleichterung bringen. Langfristig kann sich niemand der Komplexität des Lebens entziehen.
Auszeit aus der Komplexität des Lebens
Wenn uns aber einmal alles zu viel wird und wir das Leben als unerträglich komplex empfinden, so kann eine Komplexitäts-Auszeit sehr sinnvoll sein. Zeit in der Natur bietet sich als „Leere für den Geist“ an. Auch wenn das Ökosystem, in dem wir entspannen, sehr komplex sein wird, so ist die empfundene Komplexität sehr gering. Das System bezieht uns – bei einer kleinen Wanderung – nur wenig ein, es fordert von uns fast keine Interaktionen.
Wir erleben größte Einfachheit in einer komplexen Umwelt.
Der große Kybernetiker Heinz von Förster hatte einen entspannten Zugang zur Reduktion der Komplexität. Wer die Komplexität an einer Stelle reduzieren will, erhöht sie an einer anderen Stelle. Überhaupt lässt sich Komplexität nicht beherrschen, alleine der Versuch ist arrogant.
Das war die schlechte Nachricht. Komplexität aber macht unser Leben zu einem Dauergeburtstag, weil sie jederzeit ein überraschendes Geschenk für uns über hat. Das war die gute Nachricht.
Die falsche Schwarmintelligenz
Auch wenn wir der Schwarmintelligenz gerne einen Platz in den hinteren Reihen zusprechen und auf die „dummen Wesen“ der Tierwelt verweisen, so holt sie uns immer wieder ein. Eine Gesellschaft ohne Schwarmintelligenz wäre gar nicht möglich. Wir könnten weder komplexe Systeme aufbauen noch könnten wir als Menschen in diesen Systemen überleben, würde wir uns nicht wie ein Schwarm verhalten und eine kollektive Intelligenz bilden.
Wer einmal auf einer stark befahrenen, mehrspurigen Autobahn gefahren ist, weiß genau, wie sich ein Fisch im Schwarm fühlt. Die Regeln im Autoschwarm sind einfach: Folge dem Wagen vor dir. Achte auf genügend Abstand zu deinen Nachbarn. Vermeide so Zusammenstöße aller Art.
Ganz ähnlich verhält es sich, wenn wir zu Stoßzeiten auf einer Einkaufsmeile spazieren gehen. Und wenn Sie einmal mitten in einer „Welle“ im Fußballstadion waren, dann haben sie den Schwarm und sein Verhalten intensiv erlebt.
Die Werte im Schwarm
In unserer Gesellschaft haben wir noch ein paar Regeln mehr, die unser Schwarmverhalten bestimmen. Mir scheint es so zu sein, dass unser Wertesystem uns zu Schwarmverhalten anregt. Wir beobachten unseren Nachbarn, unsere KollegInnen und Freunde sehr genau. Das, was wir als wertvoll erachten, versuchen wir nachzuahmen.
Wahrscheinlich können wir in unserer Gesellschaft ein paar Symbolwerte finden, die unser Schwarmverhalten am stärksten beeinflussen. Für diese Werte orientieren wir uns an jenen, die „knapp vor uns sind“ und wir versuchen den Abstand gleich zu halten. Wenn eine Änderung eintritt, versuchen wir schnell nachzuziehen.
Schwarmverhalten
Ein Beispiel. Wenn in meinem Umfeld ein bestimmter Autotyp normal ist, und ich ein Auto dieses Typs fahre, bin ich mitten im Schwarm. Wenn mein Nachbar ein neues Auto kauft und eine neue Vorgabe macht, versuche ich möglichst schnell auszugleichen. Ähnlich ist es mit Geldanlagen. Wenn einer im Schwarm eine neue Vorgabe macht und durch Spekulation gewinnt, versucht der Schwarm es ihm nach zu machen. Schwarmverhalten geht dabei vor wahrer Intelligenz.
Somit komme ich zur Hypothese, dass Schwarmintelligenz in unserer Gesellschaft langsam zur Schwarmdemenz verkommen ist. Wir folgen zwar noch immer den Nachbarn, aber wir setzen dabei auf die falschen Werte. Unsere ganze westliche Zivilisation orientiert ihr Schwarmverhalten nicht an Schwarmintelligenz, sondern an Schwarmdemenz.
Beispiele? Wenn dein Nachbar ein neues Auto kauft, kaufe auch eines #Scharmdemenz. Wenn dein Kollege mehr arbeitet als du, dann leg dich mehr ins Zeug #Schwarmdemenz.
Komplexität in der Führung
Wer unter uns muss am besten mit Komplexität umgehen lernen? Die ManagerInnen und Führungskräfte natürlich 😉 Weil unsere Wirtschaftswelt immer komplexer wird, scheint mir der Umgang mit Komplexität die wichtigste Kompetenz für Führungskräfte zu sein.
Das wiederum hat sehr viel mit Veränderungen zu tun. Die aus meiner Sicht vier wichtigsten Kompetenzen der Führungskräfte der Zukunft haben wir im Buch: Das innere Spiel – Wie Entscheidung und Veränderung spielerisch gelingen (Thema: Führungskompetenzen in Zeiten des Wandels) beschrieben.
Paradox ist es schon
Jene also, die mit ihrer Bewusstseinsentwicklung weit gekommen sind, können sich an der Komplexität des Lebens erfreuen. Es sind diese Menschen, die auch in komplexen Umfeldern im Spiel bleiben können. Paradoxerweise verlieren aber Menschen mit hohem Bewusstsein die Lust an diesem Spiel.
Ein Tipp für ein gutes Leben
Wer der Alleinheit näher kommt, der hat offensichtlich weniger Bedarf, in der Formenwelt die Komplexität zu erhöhen. Die, die wollten können nicht, und die die könnten, wollen nicht. Die Formenwelt war immer schon eine Illusion und all die Probleme, die sie uns schafft, haben für die wahre Entwicklung keine Bedeutung. Wer das Labyrinth der Formenwelt durch einen „vertikalen Aufstieg“ verlassen kann, der braucht den Ausgang nicht mehr zu suchen.
Somit bleibt auch der Umgang mit Komplexität ein Spiel in der Formenwelt. Weil wir aber zum Großteil der Formenwelt noch nicht entronnen sind, scheint die stete Übung, in diesem Spiel am Ball der Komplexität zu bleiben, durchaus sinnvoll.
herzlich,
Heinz Peter Wallner
Statements:
Selbstorganisation kann erst wirken, wenn wir im Bewusstsein voller Komplexität auf den Fluss des Lebens vertrauen #Komplexität
Freude an Komplexität und komplexen Zielen fördert Entwicklung und lässt uns immer neue Grenzen überschreiten #Komplexität
Komplexität und die Lust am Leben sind eins #Komplexität
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Meine persönliche Darstellung des Self-Leaderships: Heinz Peter Wallner, 2016, TAKE FIVE – Die fünf Schlüssel zu mehr Lebendigkeit und innerer Stärke, Edition Summerhill, 1. Auflage, www.take-five-for-life.de, Link: Book2Look
Visuelle Aufbereitung und mit klarem Führungsbezug: Heinz Peter Wallner, Kurt Völkl, 2017, Fokus Self-Leadership – Gesunde und wirkungsvolle Selbstführung in Zeiten hoher Komplexität, Edition Summerhill, 1. Auflage, www.selfleadership.pro, Link: Book2Look
Video: Veränderung ganzheitlich verstehen – Heinz Peter Wallner auf YouTube
Es ist meines Erachtnes nicht so, dass Komplexität von aussen in ein System kommt und es möglicherweise zum Bersten bringt. Komplexität ist etwas höchst willkommenes. Unser gehirn und unser Bewusstsein sind komplexe Dinge. Möchten Sie wirklich Ihr Bewusstsein reduzieren? Nicht wirklich, oder?
Ich habe zum hochinteressanten Artikel von Heinz Peter Wallner eine Replik geschrieben unter
http://bit.ly/kJC44C
Herzlichen Dank Herr Addor für die Wertschätzung und den kritischen Dialog! Meine Antwort folgt demnächst. Ihr Blog ist eine Bereicherung! Freu mich auf weitere Artikel auf: http://www.anchor.ch/wordpress/ – #spannend #inspirierend #intelligent liebe Grüße, Heinz Peter Wallner