Radikales Bewahren oder/und der Exzess ins Unplanbare

Radikales Bewahren als Zukunftschance?

Wir kommen ins Zeitalter des Bewahrens. Viele Innovations- und Transformations-Enthusiasten würden einen Menschen, der eine solche These vertritt, wohl „very uninspiring person“ nennen, geht es heute doch vorrangig um Bewegung, um Innovation, um Erneuerung! Wenn wir aber auf die Welt blicken und den Weltzustand im Ganzen wahrnehmen, dann wird uns schnell klar, dass wir Menschen die Welt in den letzten Jahrzehnten zu intensiv verändert haben. Spuren unserer vermeintlichen Innovationen gibt es überall. Wir können sagen, die meist ungeplanten Nebenwirkungen unseres Wirtschaftens überwiegen schon lange deren intentierte Hauptwirkungen. Unsere Neophilie hat unsere Welt bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Was kann daher naheliegender sein, als das, was von Ihr noch übriggeblieben ist, zu schützen und zu bewahren? Alle Anstrengungen, die einer nachhaltigen Entwicklung, also einem Fortbestehen der natürlichen, aber auch gesellschaftlichen Systeme dienen müssen, vertragen keine unerprobten Innovationen mehr. Wir müssen auf Nummer sicher gehen und die Überlieferungen so weit es eben noch geht, in die Zukunft hinüberretten. Aber auch unsere gesellschaftlichen Systeme brauchen Schutz und alle Anstrengungen, bereits Erreichtes für nachfolgende Generationen zu überliefern. Steht doch die Demokratie ebenso weltweit auf einer nach vorne geneigten Ebene. Der Ruf nach mehr Technologie und weiterer radikaler Innovation mutet abenteuerlich naiv an. Unsere Energie und unsere Ressourcen müssen wir zu einem globalen Reparatur- und Pannendienst bündeln, der verursachte Schäden mindert und das „schiefe Ding zurechtzurücken“ vermag.

Der Exzess ins Unplanbare

An vielen Orten kleben sie auf den Straßen, „erweitern“ Kunstwerke zu neuen Signalbotschaften und formieren sich, um auf einen radikalen Konfrontationskurs mit den vorherrschenden Modi Vivendi zu gehen. Ganz offensichtlich haben nachfolgende Generationen wenig Grund auf ihre Überlieferungen zu setzen, weil sich mit dem Ererbten eine weitere, lebenswerte Zukunft nicht mehr gestalten lässt. Und wenn sie absichtlich viele Fäden der Überlieferung reißen lassen, können sie von den Vorfahren nur, um den Begriff von Peter Sloterdijk zu verwenden, als die schrecklichen Kinder der Neuzeit bezeichnet werden. Aus der Perspektive einer aufgewachten jungen Generation gibt es als valide Option nur mehr den Eintritt in das Zeitalter der radikalen Transformation. Für diese Aussage wird man zwar leicht zur VIP (very inspiring person), muss sich aber dessen bewusst sein, auf einen neuen Kurs ohne Sicherheiten einzuschwenken. Die Transformation muss so umfassend ausfallen, dass die Imitation von Lebensmodi keine Lernoption mehr darstellt, vielmehr braucht es einen Deal mit dem Ungewissen. Wenn wir die Fäden der Überlieferungen nicht mehr weiterspinnen wollen, blitzen gewagte Nullpunktphantasien auf, die einen Neustart in Aussicht stellen. Wenn die vorhandenen Seriositätssysteme augenscheinlich in den Abgrund führen, ist der Bruch mit ihnen ein berechtigter Gedanke. Über einhundert Jahre nach der Gründung des Cabaret Voltaire in Zürich, findet nun ein neues Cabaret Voltaire auf den Straßen statt. Und es gilt vielleicht, sofern ein Babyboomer in der Lage ist, die Situation zu erfassen, ein ähnlicher Grundgedanke: „Unser Kabarett ist eine Geste. Jedes Wort, das hier gesprochen und gesungen wird, besagt wenigstens das eine, dass es dieser erniedrigenden Zeit nicht gelungen ist, uns Respekt abzunötigen“ (E. Hennings-Ball). Alles, was der jungen Generation heute bleibt, wenn sie ihre Lebensgrundlagen erhalten will, ist der Exzess ins Unplanbare, egal wieviel Klebstoff und Tomatensuppe es noch brauchen wird.

Das eine nicht ohne das andere

Es braucht keine weiteren Erklärungen mehr, um zu verstehen, dass wir den Neigungswinkel der schiefen Ebene, auf der wir uns talwärts bewegen, nur verflachen können, wenn wir das radikale Bewahren des Schützenswerten und die radikale Transformation der planetar-destruktiven Lebensweisen zur Synthese bringen.

Quellen: Peter Sloterdijk, 2015, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, Suhrkamp

Quellen: Heinz Peter Wallner, Kurt Völkl, 2022, train the eight Leadership, Edition Summerhill

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