Ganzheitlich nachhaltige Entwicklung als Chance
Um Steigerung – oder Wachstum – ist es in meinen Artikeln hier schon oft gegangen. Heute geht es um ein Thema, das ich im Führungskräftetraining häufig im Dialog bearbeite. Ich bin der Meinung, dass Führungskräfte sich über die Muster des Steigerungsspiels Gedanken machen sollten. All jenen, die meinen, unser System funktioniere ohne Steigerung nicht, möchte ich einfach entgegenhalten, dass unser System mit weiterer Steigerung zumindest ebenso wenig funktionieren wird. Wie kann dann eine ganzheitlich nachhaltige Entwicklung aussehen?
„Die beste aller Welten finden wir im Turm zu Babel“
Zum Einlesen: Nur noch kurz die Welt retten? und Was ist am Ende der Steigerung noch „oben“?
Ganzheitlich nachhaltige Entwicklung
Vielleicht ließe sich die Sache auch ohne Geschichten und Metaphern darstellen, und vielleicht wäre ihnen das jetzt sogar lieber, weil straighter, aber es macht mir auf diese Weise viel mehr Spaß. Darum werfen wir uns in die Geschichte des Turmbaus zu Babel. Dabei verlassen wir den Weg des gesicherten Wissens und erzählen die Story eigenwillig und frei erfunden.
Wenn ein Mensch mit Leadershipqualitäten auf die Idee kommt, einen Turm zu bauen, der bis zum Himmel reicht, dann kann so einiges in Bewegung kommen. Freilich wird Macht auch eine große Rolle gespielt und dem Leadership wohl unter die Arme gegriffen haben. Der Bau des Turms ist vielleicht eine noch größere Vision als der Flug zum Mond, so viele hundert Jahre später. Und wenn ein solches Projekt begonnen wird, dann muss das „Prinzip Anfang“ schon wirken. Der Anfang braucht alle Aufmerksamkeit, weil zu Beginn das Fundament gelegt wird. Dazu ist es wichtig, auch schon am Anfang ein Bild vom Ende im Kopf zu haben, um die Grundmaße des Turms richtig auszulegen.
Prioritäten setzen
Wenn alle Ressourcen dann auf dieses Projekt gesetzt werden und der Bau beginnt, dann geht wahrlich die Post ab. Anfangs sind die Ressourcen im Übermaß vorhanden und aus der näheren Umgebung zu gewinnen. Wachstum und Steigerung sind die Grundmuster, sie sind das Motivationsmotiv schlechthin. Es muss weiter gehen, schneller, höher, schöner. Das Steigerungsspiel wurde geboren und hat sein erstes Machtspiel absolviert. Die Macht der Steigerung überkommt die Menschen und vernebelt ihren Geist. Steigerung wird dann zum Ziel und langsam zum Selbstzweck. Steigerung generiert den Wunsch nach weiter Steigerung. Das ist gut für den Turm, der schnell gegen den Himmel wächst.
Grenzen des Wachstums
Je mehr der Turm aber an Höhe gewinnt, desto mehr Energie fordert die Steigerung von den Menschen. Erstens weil der Ressourcenbrauch ständig steigt und die nahe gelegenen Ressourcen längst aufgebraucht sind. Es müssen also von fernen Gebieten die Ressourcen mit hohem Aufwand herbeigeschafft werden. Und es braucht mehr Energie, die Ressourcen für den Bau „nach Oben“ zu bringen. Wenn zu dieser Zeit die Steigerung weiter getrieben wird, wird sie teuer. Das gesamte System und seine Menschen leiden unter dem Steigerungsspiel und sie müssen es trotzdem weiter spielen.
Wenn die ganze Konzentration auf die Steigerung gerichtet ist, dann wird leicht übersehen, dass zu diesem Zeitpunkt der Turm an seinen Grundmauern bereits wieder zu zerfallen beginnt. Wird es aber als Problem erkannt, dann müssen nun auch Ressourcen zur Systemerhaltung eingesetzt werden, die sich zum Bedarf für die Steigerung einfach dazu addieren. Sie wissen wie die Geschichte weiter geht?
Klar, der Turmbau kommt an den Punkt, an dem die weitere Steigerung alle ertragbaren Grenzen des Systems überschritten hat und trotzdem alle der Meinung sind, dass es ohne Steigerung nicht ginge. Wir können annehmen, dass Steigerung als kollektives Spiel die Menschen zu den Zahnrädchen der eigenen Steigerungsmaschinerie werden lässt. Kurz gesagt, Steigerung macht Menschen dumm.
Die Grenzen überschreiten
Erst an jenem Punkt, an dem das System sich so weit übernimmt, dass es kollabiert, findet das Steigerungsspiel ein jähes Ende. Das wurde wohl auch damals Krise genannt. Die Turmblase ist geplatzt. Im mentalen Modell der steigerungsgeprägten (und somit geistig schon etwas ausgehöhlten) Menschen ist das Ende der Steigerung auch das Ende des Systems. Weil es ohne Steigerung nicht gehen kann.
Ankommen ist auch eine Option
Im Krisengejammer wird übersehen, dass der Turm in seiner gesamten Pracht ein Auskommen im vorhandenen Möglichkeitsraum eröffnet und genügend Raum für ein neues Spiel bietet. Kein Steigerungsspiel mehr, es braucht ein komplexeres Spiel, smart muss es sein und die Dummen werden es weder erfinden noch zu spielen beginnen. Dieses neue Spiel muss natürlich dafür Sorge tragen, dass der Erhalt des vorhandenen Turms nachhaltig gesichert wird. Sonst aber kann es sich auf die Lebendigkeit im Inneren konzentrieren.
Langsam gleiten wir durch die Jahrhunderte hinüber in unsere moderne Zeit, die nicht ohne solche Projekte auskommt. Unser heutiges Wirtschaftssystem ist eine archetypische Kopie des Turmprojektes zu Babel. Auch unser Projekt wächst gegen den Himmel und soll noch weiter wachsen, meinen fast alle, leider auch viele der Gelehrten. Das Steigerungsspiel treibt uns an, es gibt uns ein einfaches Ziel vor, indem es die Steigerung selbst zum Ziel macht, und es sorgt dafür, dass unser Denkvermögen aussetzt. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Die beste aller Welten
Gerhard Schulze beschreibt in seinem Buch „Die beste aller Welten“ das Steigerungsspiel sehr ausführlich und weist uns auf eine neue Entwicklung hin, die quasi unbemerkt neben der Steigerung aufkeimen darf, weil sie ohnehin keine Beachtung findet. Es ist die Ankunft.
Jene, die einen ernsthaften Blick aus einer Metaebene auf unser törichtes Spiel werfen, werden die Zukunftslosigkeit bald begreifen. Viele haben das schon vor langer Zeit begriffen und um das neue Prinzip der „Ankunft“ längst neue Geschäftsmodelle gebaut. Diese „Nachhaltigkeitspioniere“ sind hinlänglich bekannt. Aber auch sie sind nicht davor gefeit, sich erneut im Steigerungsspiel zu verlieren. Als Führungskraft bewegen sie sich in einem Spannungsfeld, das sich zwischen Steigerung und Ankunft aufspannt und unsere alten Geschäftsmodelle in Frage stellt. Sie können schon heute entscheiden, auf welcher Seite sie ihre „Nachhaltigkeit“ finden möchten. Wahrscheinlicher aber ist ein längerer Aufenthalt im Übergangsraum zwischen Sein und Nichtsein, zwischen Ankunft und Steigerung, zwischen Nachhaltigkeit und Zerstörung, zwischen Sorge und Vertrauen. Das scheint mir eine wertvolle Frage im Führungskräftetraining zu sein!
Die Übergangsräume eröffnen
Überhaupt sehen wir im mutigen Eröffnen von Übergangsräumen, die voller Widersprüche sind, eine der wichtigsten Führungsaufgaben für heute – und in Zukunft. „Kühn betraten sie das unbekannt Land, entschlossen bewegten sie sich von eine Irrtum zum nächsten“ (Paul Feyerabend). Wir raten ihnen, seien sie wirklich mutig im Umgang mit Widersprüchen. Öffnen sie jede Tür, die Ihnen Zutritt zu einem Raum voller Widersprüche gewährt.
Herzlich,
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Einige Minuten, um die Gegenwart zu erhellen
Meine persönliche Darstellung des Self-Leaderships: Heinz Peter Wallner, 2016, TAKE FIVE – Die fünf Schlüssel zu mehr Lebendigkeit und innerer Stärke, Edition Summerhill, 1. Auflage, www.take-five-for-life.de, Link: Book2Look
Visuelle Aufbereitung und mit klarem Führungsbezug: Heinz Peter Wallner, Kurt Völkl, 2017, Fokus Self-Leadership – Gesunde und wirkungsvolle Selbstführung in Zeiten hoher Komplexität, Edition Summerhill, 1. Auflage, www.selfleadership.pro, Link: Book2Look
Video: Veränderung ganzheitlich verstehen – Heinz Peter Wallner auf YouTube
Virtuos eröffnet HPWallner mit diesen spannendem Gedanken den Tag und unsere Horizonte!! Danke
Lieber Peter!
Mit großem Interesse habe ich diesen Deinen Artikel gelesen. Auch mich hat das Thema in den letzten Monaten beschäftigt. Ich tendiere ja immer dazu, „Gas zu geben“ anstatt zögerlich Abstand von neuen Ideen und Gedanken zu halten. Ich glaube jedoch erkannt zu haben, dass die Gefahr groß ist gute Leute auf diesem Wege zu verlieren. Daher habe ich für mich die Theorie entwickelt: ich versuche mich in einer Art Pendelbewegung zu halten. Mal vorne, mal hinten. Tendenz vorne (eh klar! :-)). Nur dann kann Steigerung (vielleicht manchmal verzögert) weiter möglich sein ohne das Fundament (oder das andere Ende des Spektrums) zu verlieren. Das ist mühsam. Doch was hab ich gelernt: Ich bin nicht da, es einfach zu haben. Und so bleibe ich in Bewegung. Das ist ja – wie wir wissen – gesundheitsfördernd. Ich denke, das ist Gedanken- und Ideen fördernd.
Zumindest ist das ein Weg für mich.
LG Buddy
Lieber Buddy, Du erfreust mich 🙂 Danke! Nun, ich teile Deine Gedanken und unterstütze sie sehr. Führungskräfte leben in Spannungsfeldern und müssen sich mit Widersprüchen auseinander setzen. Niemand kann diese auflösen, wir können uns nur mit ihnen aussöhnen. Ziel ist es dabei, in einer dynamischen, sehr lebendigen Balance zu bleiben, an die Grenzen zu gehen, Energien aufnehmen und wieder den Rückzug zur Mitte anstreben. Genau so, wie Du es beschreibst! Es ist ein Pendeln, ein Schwingen, auch in der liegenden Acht. Es ist eine wichtige Aufgabe, den Führungskräften diese Spannungsfelder bewußt zu machen und so die „Aporien“ an zu erkennen. Die Zeit fordert viel und leicht ist der Job ohnehin nie gewesen 🙂 Alles Liebe, bis bald, herzlich, Peter
Ja, der Turmbau zu Babel ist immerzu eine feine Metapher. Ihren Worten kann ich mich nur anschließen, finden sie sich doch in eigenen Texten wieder, wie z.B hier:
http://gold-dna.de/ziel14.html
Wird das eigentliche Produkt, welches ein Unternehmen erst hervorgebracht hat, aus den Augen verloren und stattdessen auf Bilanz und die Aktionäre geschielt, dann beginnt es bereits zu rumpeln im Fundament.
Sonnige Feiertage und einen schönen Gruß