Komplexitätstraining
Heute gehe ich auf eine weitere Strategie für Führungskräfte in komplexen Situationen ein. Ich beschreibe kurz eine Möglichkeit, die unterbewusste Intelligenz – oft auch Intuition genannt – für Entscheidungsprozesse unter hoher Unsicherheit zu nutzen.
Grenzen der Wahrnehmung
Der Künstler und Visionär William Blake hat dazu eine relevante Aussage getätigt:
„Die Wahrnehmungen des Menschen werden nicht von Organen der Wahrnehmung beschränkt; er nimmt mehr wahr, als die Sinne (und wären sie noch so scharf) entdecken können“ (William Blake).
Muster erkennen
Um mit einer komplexen Herausforderung fertig zu werden, ist es sehr hilfreich, die Betrachtung der Details nicht zu wichtig zu nehmen. Ein komplexes System lässt sich nämlich nicht über die Details verstehen. Wichtiger sind die großen Muster des Systems.
Dazu gleich ein einfaches Beispiel. Wenn Sie als Führungskraft ein Team aus zwölf sehr unterschiedlichen Personen führen, dann werden Sie nach einiger Zeit annehmen, das Verhalten des Teams bereits gut zu verstehen.
Es ist aber gut zu wissen, dass Sie das komplexe soziale System niemals wirklich verstehen und dessen Verhalten auch nicht sicher vorhersehen können. Es wird immer ein Maß an Unsicherheit bleiben. Das Team kann Sie jederzeit überraschen. Mit einiger Erfahrung aber können Sie die Neigungen des Teams unter bestimmten Bedingungen gut erkennen. Diese Neigungen sind die „Muster“ des komplexen Systems.
Problemerfassung
Wenn ein Problem auftritt und das Team sich zerrüttet, dann werden Ihnen die Informationen über einzelne Menschen (die Details) nicht weiterhelfen. Wenn Sie es aber gelernt haben, die Neigungen und Muster des Teams als Gesamtheit wahrzunehmen und zu betrachten, dann können Sie Probleme durch bestimmte Interventionen nun besser lösen.
Problemlösung
Im Umgang mit einem komplexen System gilt die Heuristik: „probe-sense-respond“. Als Führungskraft probieren Sie eine Intervention aus. Dann beobachten Sie die Wirkungen, die Sie damit erzielt haben und ziehen durch Reflexion die Lehren. Ist etwas „in die richtige Richtung“ in Bewegung gekommen? Wenn ja, verstärken Sie die Intervention. Wenn Sie nicht die gewünschte Wirkung erzielt haben, versuchen Sie etwas anders.
Erfahrene Führungskräfte können auf diese Weise anhand der Verhaltensmuster eines Teams sehr viel ablesen. Probleme können daher bereits sehr früh erkannt und entschärft werden. Die Muster der Begrüßungen bei einem Meeting beispielsweise lassen unterbewusst bereits das Radar für den Motivationszustand laufen.
Fähigkeit zur Musterkennung
Menschen haben eine sehr hohe Kompetenz in der Mustererkennung entwickelt. Das ist für uns in vielen Lebenssituationen von Vorteil. Beispielsweise können wir aus den komplexen Bewegungen der Gesichtsmuskeln eines Menschen, also dem Muster des Gesichtsausdrucks, erkennen, ob wir diesem Menschen vertrauen können. Für diese Entscheidung brauchen wir, wenn wir den Menschen zum ersten Mal sehen, weniger als eine halbe Sekunde.
Ein erfahrener Notfallmediziner kann am komplexen Zusammenspiel unterschiedlicher Ausdrucksformen eines Patienten schnell erkennen, ob beispielsweise Gefahr auf Herzinfarkt besteht. Komplizierte Testverfahren dienen dann nur mehr der Bestätigung dafür, was der Mediziner längst weiß.
Ein erfahrener Wirtschaftsprüfer muss eine Bilanz nur scannen, um ein Gefühl zu entwickeln, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Er erkennt ein Muster. Ein erfahrener Vertriebsmensch kann bei der Beobachtung seiner Märkte anhand vieler unterschiedlicher Verhaltens- und Entwicklungsmuster frühzeitig „leise Signale“ deuten und daher schneller reagieren, als unerfahrene Menschen.
Verstecktes Wissen
Zusammengefasst lässt sich also schlussfolgern: Wir wissen unterbewusst unglaublich viel mehr als unser bewusster Geist uns glauben machen will. Dieses „Wissen“ ist aber unterbewusst und steht uns nur als „Intuition“ zu Verfügung. Wir wissen dann beispielsweise in einer komplexen Entscheidungssituation, ob wir für oder gegen eine Investition stimmen sollten. Leider können wir unser „intuitives Wissen“ nicht rational erklären.
In Situationen großer Unsicherheit, also immer dann, wenn wir mit komplexen Problemstellungen konfrontiert werden, können wir die Fähigkeiten der unterbewussten Intelligenz in der Entscheidungsfindung nutzen.
Was ist intuitives Prozessieren?
Für Führungskräfte gibt es eine wirksame Vorgangsweise, die wir im Komplexitätstraining bearbeiten und üben: „Intuitives Prozessieren“
Das Ziel:
In einer Situation mit hoher Unsicherheit, eine gute Entscheidung treffen zu können.
Die Entscheidungsstrategie:
Intuitionsarbeit – ein mehrstufiger Prozess nach Henrie Poincaré.
- Präparation: Wir stimmen uns auf das Problem ein, entdecken und sammeln Informationen als Rohmaterial, vertiefen uns (geistig und emotional) in das Thema.
- Inkubation: Wir kommen nicht weiter, lassen das Rohmaterial ruhen. Wir machen bewusst eine Pause. Das Wissen sinkt ins Unbewusste ab, wo es unbemerkt weiterverarbeitet wird („auf die Plateauphase treffen“; ein komplexer, unterbewusster Vorgang ist im Gange, ohne den bewussten Geist einzubeziehen)
- Illumination: Dann kommt die Lösung – ein kreativer Einfall aus dem Unbewussten als Geistesblitz, Aha-Erlebnis: Heureka!
- Verifikation: Nun müssen wir die Lösungsansätze bewusst systematisch ausarbeiten und die gewonnenen Einsichten auf Machbarkeit hin überprüfen. Jetzt setzen wir den bewussten, rationalen Geist ein.
Ergebnisse und Wirkung: In einer strategischen, sehr komplexen Frage können Führungskräfte, die mit ähnlichen Entscheidungsfragen schon viele Jahre Erfahrungen sammeln konnten, eine Entscheidung treffen, die sehr wahrscheinlich eine gute sein wird.
Mein Tipp für Führungskräfte:
Das intuitive Prozessieren funktioniert auch mit einem Team. Wichtig ist dabei, dass Sie ein Ende der Inkubationsphase gemeinsam eindeutig festlegen und terminisieren. Wenn das Entscheidungsmeeting zur Vorbereitung (Präparation) an einem Montag stattfindet, dann können sie beispielsweise festlegen, dass Sie gemeinsam am Donnerstag um 9.00 Uhr entscheiden werden. Dieses Meeting dauert dann nur wenige Minuten, weil es nur mehr das „ja“ oder „nein“ der Teammitglieder braucht. Es ist auf jeden Fall einen Versuch wert!
Herzlich,
Heinz Peter Wallner
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