Home Blogartikel Brauchen wir Meinung und Wahrheit?

Brauchen wir Meinung und Wahrheit?

Brauchen wir Meinung und Wahrheit?
by Heinz Peter Wallner

Brauchen wir Meinung und Wahrheit?

Nach längerer Zeit habe ich erneut Siddhartha von Herman Hesse gelesen. Diesmal ging diese Dichtung tiefer, brachte mehr Erkenntnis und eigenes Verstehen. Besonders beeindruckend finde ich den abschließenden Dialog von Siddhartha mit seinem Freunde Govinda über die Wahrheit. Darauf werde ich näher eingehen. Die Frage, die ich heute stelle lautet: Brauchen wir Meinung und Wahrheit?

„Ein Fährmann, ja. Manche, Govinda, müssen sich viel verändern, müssen allerlei Gewand tragen, ihrer einer bin ich, Lieber. Sei willkommen, Govinda, und bleibe die Nacht in meiner Hütte.“ (aus „Siddhartha“ von Hermann Hesse)

„Der Begriff der Wahrheit ist, wenn man es genau nimmt, ein Chamäleon der Philosophiegeschichte mit einer – je nach Benutzer – immer etwas anderen Färbung. … Wahrheit ist, so habe ich einmal gesagt, die Erfindung eines Lügners“ (Heinz von Förster).

Ospiti Guests Gośie von Krzysztof Wodiczko: Abbildung:  „Ospiti / Guests / Gośie" von Krzysztof Wodiczko im Polnischen Pavillon,gezeigt in Venedig, Biennale 09.

Ospiti Guests Gośie von Krzysztof Wodiczko

Abbildung:  „Ospiti / Guests / Gośie“ von Krzysztof Wodiczko im Polnischen Pavillon,
gezeigt in Venedig, Biennale 09.

Die Wahrheit und ihr Gegenteil

Sprach Siddhartha: „Ich habe einen Gedanken gefunden, Govinda, den du wieder für Scherz oder für Narrheit halten wirst, der aber mein bester Gedanke ist. Er heißt: Von jeder Wahrheit ist das Gegenteil ebenso wahr! Nämlich so: eine Wahrheit lässt sich immer nur aussprechen und in Worte hüllen, wenn sie einseitig ist. Einseitig ist alles, was mit Gedanken gedacht und mit Worten gesagt werden kann, alles einseitig, alles halb, alles entbehrt der Ganzheit, des Runden, der Einheit.

Und in diesen Tagen kam es dann zu einem Dialog mit meinen PartnerInnen über unser neues „train the eight“ (lernen in der liegenden Acht) Modell, mit dem wir Wandel und Lernen für Unternehmen beschreiben. Müssen wir das Modell, bevor wir es verwenden, wirklich als Wahrheit erkennen und deklarieren? Können wir uns keine Meinung bilden und kein Commitment für etwas abgeben, ohne es mit Wahrheit in Verbindung bringen zu müssen? Bevor ich daraus meine Erkenntnis ziehe, hier einige Gedanken dazu.

Über die Klarheit im Denken

In unserem Denken neigen wir dazu, über eine Sache Klarheit bekommen zu wollen. Mit dieser Klarheit verbunden ist dann unsere Meinung. Eine Meinung zu haben ist fast alles, was in unserer Welt heute Wert hat. Den Streit der Meinungen erklären wir zur heiligen Meisterschaft. Ist das nun falsch oder wahr? Und schon wieder wollen wir uns unsere Meinung bilden, sofort bewerten. Es gibt keinen anderen Weg etwas darzustellen und eine Entscheidung für etwas zu treffen. Nichts lässt sich beschreiben, kein Modell lässt sich bilden, wenn wir nicht zuvor definieren, was wir für die Wahrheit halten.

Lüge und Wahrheit sind das herrschende Gegensatzpaar. Die Lüge als Lebenselixier der Politiker, die Wahrheit als jenes der Priester. Dabei ist eines klar: nur der, der sich keinen guten Anwalt leisten kann, sollte lieber gleich die Wahrheit sagen. In diesem Fall hat sie Wert, da kann sie ein Leben zumindest verbessern.  Aber sonst? Wohin führt uns das Gegensatzpaar von Wahrheit und Lüge? Teilt die Unterscheidung nicht einfach die Welt in zwei Teile, in jenen Teil der Menschen, die im Besitze der Wahrheit sind und in den Teil jener, die der Lüge anheim fallen? Damit sind wir mitten drinnen im Streit um Worte, mitten im Dickicht des mechanistischen Denkens. Fein zerteilt in weiß und schwarz, in gut und böse, in richtig und falsch.

Ganzheitliches Denken als Ausweg

Nur ganzheitliches Denken führt uns aus der Sackgasse des ‚Zerteilen-müssens’. Sobald wir erkennen, dass immer das ‚Sowohl-als-auch’ gilt, können wir loslassen und Einheit wahrnehmen. Wenn das Eine wahr ist, dann ist immer das Gegenteil auch wahr. Alles was gut ist, ist auch schlecht, aber es gilt kein ‚Weder-noch’, sondern nur ein ‚Sowohl-als-auch’. Noch nie war ein Mensch ganz gut oder ganz schlecht, noch nie ein wissenschaftliches Modell ganz richtig oder ganz falsch. Richtig und falsch sind eine Täuschung, deren Komplizin die Illusion der Zeit ist. Nur zu einem bestimmten Zeitpunkt ist etwas scheinbar wahr oder falsch, gut oder schlecht.

Warum also der Streit um Worte? (Blogbeitrag über „Welchen Wert hat die Meinung?“)

Wahrheit und die Meinung

Im Buch das „Das All-sehende Auge” von David R. Hawkins findet sich das Zitat: „Wenn man sorgfältig prüft, findet man, dass alle Meinungen wertlos sind. Alle sind sie Nichtigkeiten, haben keine Bedeutung, und es wohnt ihnen keinerlei Verdienst inne.” Ich liebe dieses Zitat, weil es das Ego hinterfragt und eine innere Verwirrung hervorruft. An dieser Stelle finde ich wieder zu den drei Moden des erwachten Handelns von Eckhart Tolle: Die drei Moden lauten: 1.) Ist das so? 2.) Mag sein. 3.) Auch das geht vorbei (mehr dazu hier).  Auch das kann ich lieben, würde wohl Siddhartha sagen 🙂

Zur Eingangsfrage nun zurück…

Wie können wir es mit einem Modell wie dem „train the eight“ halten? Es gibt keinen Weg, etwas zu beschreiben, ohne die Welt zuvor zu zerteilen. Also ist es wohl so, dass wir das Modell als wahr anerkennen müssen, bevor wir es lehren. Fast schade.

Thruth? Wozu noch Wahrheit?

Thruth? Wozu noch Wahrheit?

Bild: Einfacher ist aber: Wir bleiben bei der Wahrheit!

Warum aber sollen wir nicht einmal das Unmögliche versuchen und an einer Haltung arbeiten, die ohne Wahrheitsanspruch auskommt? Etwa so: Ich kann das Modell annehmen, anerkennen und wertschätzen. Mir selbst kann ich damit die Welt besser erklären; es hilft mir, mein Leben, meine Arbeit, die Welt besser zu verstehen. Mag es viele Modelle geben, ich halte mich an dieses. Ich kann es loben, ich kann es lieben. Es hilft einfach, es funktioniert. Warum sollte es nicht anderen Menschen ebenso helfen? Auch wenn sich Siddhartha von dieser Lehre wieder abwenden würde, ich kann sie annehmen und/oder weiter suchen.

train the eight

train the eight

Bild: „train the eight“ Kresse-Wallner 2010

Das Modell „train the eight“

Solange ich ein Modell nicht als das einzige, das beste und schönste darstellen muss, kann ich darauf verzichten, die Wahrheit des Modells in den Vordergrund zu stellen. Das Modell muss nur helfen, es muss funktionieren, nicht die Wahrheit verkörpern. Sobald ich aber wieder an etwas glaube, bin ich gleich mitten drinnen im Dschungel der Wahrheiten. An was denn sonst sollte ich glauben, wenn nicht an die Wahrheit? Sich aus den Fängen des mechanistischen Weltbildes zu lösen ist „wahrlich“ ein Training wert. Täglich und „am besten“ (Vorsicht, Meinung!) natürlich in der liegenden Acht 🙂 – train the eight!

Herzlich,

Heinz Peter Wallner

 

Weitere Artikel:

Freischwebende Aufmerksamkeit im Komplexitätstraining

Komplexitätstraining und Widerspruchsarbeit

Experimente und die Nebenwirkungen der Agilität

 

Dr. Heinz Peter Wallner Learning to change! Dem Wandel begegnen, Komplexität meistern, auf höhere Ebenen kommen! Führungskräftetrainer, Strategie- und Changeberater, Buchautor, Vortragender, mit 25 Jahren Berufserfahrung. Leadership, Self -Leadership und Persönlichkeitsentwicklung, Umgang mit Veränderung und hoher Komplexität (VUCA Welt), Leading Change, Entscheidungsfindung und neue emotional-intuitive Führungskompetenzen für agile Führungsformen. Das ganzheitliche und kreative Design wird Sie überraschen. Web: www.hpwallner.com Takern I 109, 8321 St. Margarethen/Raab, Österreich Mobil: +43-664-8277375 Office: +43-664-8277376 Mail: wallner [at] trainthe8.com Office: office [at] trainthe8.com

2 Kommentare

  1. Dem kann ich nur zustimmen.

    „Nicht steht mir zu, über eines andern Leben zu urteilen! Für mich allein muß ich urteilen, muß ich wählen, muß ich ablehnen.“
    – Hermann Hesse, Siddhartha

Schreibe einen Kommentar