Herausforderungen an Führungskräfte: In Bewegung bleiben!
Die Arbeit von Kurt Völkl und mir über die Widersprüche der Organisationen wurde kürzlich um eine Perspektive reicher. Das Buch „Das Alarmdilemma“ von Gerhard Schulze hat uns dazu inspiriert, die Widersprüche und die Rollen der Führungskräfte in Organisationen erneut zu betrachten und etwas nach zu schärfen. Aus unserer Sicht zählen die Widersprüche zu den ganz großen Herausforderungen an Führungskräfte in einer komplexen Welt. Widersprüche = Ambivalenz = Ambiguity. Diese Thematik ist einer der zentralen Aspekte im Führungskräftetraining geworden. Widerspruchskompetenz ist unter komplexen Bedingungen eine Voraussetzung für den Führungserfolg. Heute wird das oft auch „Ambidextrie“ genannt. Führungskräfte müssen stabile Phasen – das Bewahren – ebenso gut meistern, wie instabile Phasen, also den Change.
Bewahren und Verändern
In Organisationen sind wir mit der ständigen Dynamik zwischen Bewahren und Verändern konfrontiert. Aber es gibt auch heute noch Organisationen, die mit alten Weltbildern, Menschenbildern und Managementparadigmen ihr Auskommen suchen. Der Druck der Umwelt, sich einem Transformationsprozess zu unterziehen und sich an den Zeichen der Zeit zu orientieren, ist eben nicht überall gleich groß. Was aber nach außen ruhig, fast gleichgültig und starr wirkt, kann im Inneren brodeln und eine hohe Dynamik in der scheinbaren Erstarrung aufweisen.
Die stabile Phase und deren Wirkkräfte
Auch in den stabilen Phasen, in denen sich Organisationen zeitweise befinden, bilden sich nämlich Widersprüche aus, die von Menschen aufgenommen und ausgetragen werden. Die Polarität, die sich aufspannt und Menschen unter Spannung hält, ist die der Ruhe und des Alarms. Der Ruhepol wird von Menschen verkörpert, die mit der Situation recht zufrieden sind und die keinerlei Bedarf einer Veränderung erkennen wollen. John P. Kotter würde sagen: „Urgency levels low, complacency high“. In einer starken Ausprägung zeigen Führungskräfte des Ruhepols oft eine schwer ertragbare Selbstgefälligkeit. „Schauen sie, wir machen einen guten Job. Wir haben seit Jahrzehnten Erfolge und haben wohl offensichtlich das Richtige getan. Was soll also das ganze Gerede von Veränderungen? Wir verändern uns hier ohnehin die ganze Zeit!“ Diese Rolle ist die der Beschwichtiger.
Das Läuten der Glocken
Den Gegenpol bildet der Alarm, der Ort, an dem die Glocken ständig läuten. Menschen, die diesen Pol bekleiden, treten als Warner in Erscheinung. Sie warnen dauernd vor der großen Krise, die nicht mehr abzuwenden ist, sie warnen davor, alles zu verlieren, wenn nicht sofort mit einer radikalen Transformation begonnen wird. In dieser Rolle wird alles in Frage gestellt und alles Bestehende kritisiert. Wir können diagnostizieren: „Urgency levels high, complaceny low“. In der jeweiligen Situation wird jedenfalls eine schlimme Krise erkannt. Die Krise ist meist allumfassend und überall erkennbar. Wenn der Gesamtzustand der Organisation aber von den Beschwichtigern bestimmt wird, stürzen die Warner in ein Alarmdilemma. Nicht mehr wissend, was eigentlich normal sei, bricht die Krise, das Anormale an jeder Stelle auf, wo man hinsieht. Leider sehen es die anderen nicht. Das Leben der Warner wirkt fast gespenstisch, weil sie immer etwas sehen, was andere nicht wahrnehmen können.
Beschwichtiger und Warner
Wir haben somit zwei Rollen, die Führungskräfte einnehmen können. Die Beschwichtiger und die Warner. Es liegt in der Natur der Sache, dass in der stabilen Phase der Organisation, die Beschwichtiger Oberwasser haben. Es handelt sich dann um Führungskräfte, die Vorhandenes bewahren und möglichst effizient ausgestalten. Wir nennen sie meist die Manager. Metaphorisch gesehen sind Manager Gutsverwalter, die das Beste aus dem Anwesen machen. Die Warner dürfen ihr „Unwesen“ treiben, solange sie es nicht übertreiben und die wichtige Arbeit nicht zu sehr stören. Auf der Ebene der MitarbeiterInnen führt das zu einer Rolle, die von sehr vielen automatisch eingenommen wird. Sie werden zu Hausmeistern, die den Laden sauber halten, die Beschwichtiger unterstützen und die Warner mit Argwohn beobachten.
So sieht die Widerspruchsmatrix in stabilen Phasen der Organisation aus, wenn bewahrende Elemente dominieren:
Hier sehen wir die beiden Ebenen, die konstruktive und die destruktive, auf denen der Widerspruch ausgetragen werden kann. Der Widerspruch belebt die Organisation nur dann, wenn er auf der konstruktiven Ebene geführt wird. Er wirkt hingegen lähmend, wenn auf der destruktiven Ebene über Positionen ausgestritten wird.
Die instabile Phase, die Veränderung und deren Wirkkräfte
Weil jede Organisation immer wieder stabile Phasen braucht, die letztlich zu der Effizienz führen, die Gewinne nach sich zieht, sind die Beschwichtiger ein wichtiges Dämpfungsglied in der hohen Dynamik der Zeit. Die Rolle ist also überlebenswichtig für jede Organisation. Aber auch die Warner sind für das Überleben höchst relevant. Gäbe es sie nicht, würde die Organisation erstarren und letztlich an der Wand, erbaut aus den Steinen der Selbstgefälligkeit, zerschellen.
Die Transformation
Kippt die Organisation an einem Punkt der Entscheidung aus ihrer stabilen Ruhephase und geht in einen Transformationsprozess über, dann verändern sich die Rollen der Führungskräfte. Kurzfristige haben jetzt die Warner Oberwasser, weil sie es ja schon lange gewusst haben und daher auf ihr Recht pochen, den Lead zu übernehmen. Die Beschwichtiger sind eines Besseren belehrt und verhalten sich ruhiger und weniger selbstgefällig. Im Wandel aber verlieren letztlich beide Rollen ihre Bedeutung. In der instabilen Phase braucht es andere Rollen, weil sich eine andere Polarität herausbildet, die wiederum von den Führungskräften bekleidet und ausgelebt werden will. Die neuen Rollen sind – nach Gehard Schulze – die der Pioniere und der Besorgten. Nicht immer wird aus einem Warner ein Pionier und aus einem Beschwichtiger ein Besorgter. Im Gegenteil. In der Grundfunktion befürchtet der Warner das Scheitern eines Projekts oder Unternehmens während der Besorgte das Chaos als mögliche Folge der Veränderung erkennt und sich deshalb ängstigt.
So sieht die Widerspruchsmatrix in instabilen Phasen der Organisation aus, wenn Elemente der Veränderung dominieren:
Und wieder gilt: Der Widerspruch belebt die Organisation, wenn er auf der konstruktiven Ebene geführt wird. Er wirkt hingegen lähmend, wenn auf der destruktiven Ebene über Positionen gestritten wird.
Die Rolle der MitarbeiterInnen verändert sich ebenso grundlegend. Die Hausmeister kämpfen zwar um ihr altes Territorium, aber sie haben ihren Einfluss längst verloren. Es sind die Seiltänzer, die nun hohen Dynamiken mit Leichtigkeit trotzen. Nur wer eine Balance-Stange in Händen hält, verliert jetzt nicht das Gleichgewicht.
Was heißt das nun für Führungskräfte?
Eine bekannte Unterscheidung, die wir im Führungskräftetraining einsetzen, liegt darin: Management vs Leadership. In der Tendenz braucht es in der stabilen Phase mehr gute Manager, aber immer auch einige Leader. Zweifellos geben die Manager den Ton an. Sie übernehmen dabei die Rolle der Beschwichtiger in besonderem Maße. Jeder Manager aber trägt auch den Leader in sich. Ein bisschen Warner steckt wohl in jedem Menschen.
In der instabilen Phase der Veränderung treten die Leader in die erste Reihe vor. Jetzt braucht es Leadership. Das gute Management aber muss immer die zweite Reihe bilden. Auch wenn das Leading Change an Bedeutung gewinnt, so bleibt das Change Management eine wichtige Aufgabe in jeder Transformation. Leader sind in der Tendenz eher die Pioniere. Aber im Leader steckt auch die andere Seite; ein Pionier trägt immer auch den Besorgten in sich. Eine Führungskraft muss diese beiden Perspektiven kennen und entsprechend agieren können.
Spielfeld der Führungskräfte
Hier nun das Spielfeld der Führungskräfte in heutigen Organisationen, in denen stabile und instabile Phasen in kurzen Zeitabschnitten einander die Hand reichen.
Verändern | Bewahren | |
Stabilität | Warner | Beschwichtiger |
Instabilität | Pionier | Besorgter |
Es reicht nicht mehr aus, nur Manager oder nur Leader zu sein. Vereint im Widerspruch gilt es eine lebbare Synthese zu suchen. Je dynamischer unsere Zeit wird, desto weniger Sinn macht eine strikte Unterscheidung zwischen stabilen und instabilen Phasen. Das „Entweder-Oder“ im Unternehmen verschwindet zunehmend und macht einem „Sowohl-als-auch“ Platz.
Das naszierende Unternehmen
Aus unserer Sicht ist die Wirtschaftswelt heute nicht mehr entweder stabil oder instabil, sondern beides gleichzeitig. Bewegung und Stillstand, verändern und bewahren, vereinen sich zu einem dynamischen Scheingleichgewicht, zur Synthese des naszierenden Unternehmens (emergenten Unternehmens). Es ist das ein Zustand des dauernden Zurweltkommens, einer ständigen energetischen Erregung, gleich einer nicht enden wollende Geburt.
Cooper schreibt an Käpt’n Visi O’NärWeißt du was, Visi, ich brauche eine Auszeit, ein paar Tage mit dir auf See, das wär’s. Dann lassen wir die Korken tanzen und starren auf das Sonnenfeuer am Horizont. Ich schlafe an Deck und lasse keinen Stern aus den Augen und morgens schwimmen wir mit Delphinen um die Wette. Sag bitte, du holst mich ab. Mein Rucksack ist gepackt. Bis zum nächsten Atemzug, Dein Cooper
Herzlich,
Heinz Peter Wallner
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