Steigerungswirtschaft – Erfolgreich sein mit Wachstum?
„Können sie mir helfen Madam? Sir, wohin soll ich laufen?“ Solche und ähnliche Fragen stellen die Raindogs, die in den engen Straßenschluchten der Großstädte des Westens ihre Runden ziehen, nachdem der schwere Regen ihnen alle Duftmarken weggewaschen hat. Sie irren ziel- und hoffnungslos durch die Straßen. Tom Waits, das infant terrible des Pops, hat sich als erster dieser Figuren angenommen und ihnen ein Lied gewidmet.
Duftmarken machen die Welt sympathisch und vertraut, wir kennen unsere Wege und unser Tun bekommt Struktur. Ziele können wir leicht erreichen, einmal rechts um die Ecke, bis zum Überrest einer alten Telfonzelle, sie duftet unbeschreiblich, dann fünfzig Meter bis zum roten Hydranten, schon bald bin ich am Ziel. In einer so gut bekannten Welt lässt sich leicht und bequem leben und vor allem lassen sich gewünschte Ziele schnell erreichen. Was aber geschieht, wenn der Regen wirklich alle Marken löscht? Was leistet uns Hilfe, was Orientierung? Es ist dann die Zeit des großen Hundejammers gekommen. Änderungen und Flexibilität sind gefragt, Mut wird zur Überlebensstrategie, ohje. Nicht nur, dass uns die Orientierung genommen wird, wir holen uns auch noch nasse Pfoten.
Die Vorführung ist ausverkauft
Es ist eine kühne Annahme, dass der Tanz der Raindogs nur eine erfundene Geschichte sei und dass es schon gar keine Parallelen zu unserer Gesellschaft gäbe. Weit gefehlt, wir können davon ausgehen und mit großem Erstaunen, dem Tanz der Rainwomen und der Rainmen zusehen. Entscheiden müssen wir nur, ob wir weinen oder mittanzen und uns amüsieren sollen. Die Welt zeigt sich uns Menschen im Westen von einer nassen Seite, fast schon ganz ohne Duftmarken. Wenig der alten Muster und Handlungsweisen, die uns zum Erfolg geführt haben, können ihre volle Kraft noch ausspielen. Vieles müssen wir über Bord werfen, uns von geliebten Weisen trennen und einer neuen Welt in die Augen blicken.
Im Club der Erfolgreichen hat es kräftig geknistert und die Netzwerke der Macht kamen ins wanken. Ein neues Licht wirft uns seine Strahlen ins Gesicht, es blendet und irritiert. Warum ist das so und überhaupt, muss das so bleiben? Gibt es kein Zurück, keine Chance, den Scheinwerfern einer neuen Zeit zu entwischen? Auf der Bühne des Westens beginnt sich langsam das Gefühl einzuschleichen, dass das Auditorium den Saal zu verlassen beginnt und unser Tanz ein baldiges Ende finden wird. War die Vorführung anfangs ausverkauft, so wird sie bald ausgelaufen sein.
Von einem Irrtum zum nächsten
Warum muss der Westen das erleiden, oder ist es am Ende gar kein Leid? Genau, es gibt kein Leid weit und breit, nur eine schwere Zeit für viele und dann die ganzen Chancen – sie blitzen nur so auf, wie ein Sternenregen, weil sich eine Veränderung in unserer Gesellschaft breit macht, die mehr ist als nur eine ganz normale Veränderung ist. Wir vollziehen nicht weniger als einen Wandel unseres Weltbildes. Das geht langsam und zäh und bringt uns zunächst eine Zeit der Orientierungslosigkeit, voller ungelöster Probleme und wehmütigen Blicken zurück. Wir befinden uns als Gesellschaft in einer Zielkrise.
Genau darum lösen wir keine unserer heutigen Probleme wirklich gut! Denn wir tun so, als befänden wir uns in einer der vielen bekannten Steuerkrisen, denen wir mit den bekannten Instrumenten und Ansätzen entkommen könnten. Wir versuchen es wieder mit Effizienz, wieder mit neuem Wachstum, wieder mit mehr desselben. Und es wird nicht funktionieren, weil es nicht mehr funktionieren kann. Die Erfolgrezepte der letzen Jahrzehnte können uns aus dem Tanz der Raindogs nicht befreien, sie öffnen keine Türen mehr. Wir dürfen der neuen Zeit ins Auge sehen. Was die Gesellschaft schon in Ansätzen tut, nämlich sich mit mehr Bewusstsein einer ganzheitlichen Welt zu nähern, hat die Wirtschaft noch nicht begriffen. Sie läuft schneller weiter, um sich selbst zu überholen und begibt sich von einem Irrtum zu nächsten.
Was aber ansteht ist der Eintritt in ein neues Land. Dort braucht es die kühnen Schritte, die auch wieder zu Irrtümern führen, aber es dann wenigsten solche, aus denen wir neue Lehren ziehen können.
Die Zukunft der Gesellschaft ist gesichert
Viele Menschen haben heute erkannt, dass die Welt der Steigerung einmal ein Ende haben muss. Für diese Erkenntnis braucht es, möchte man meinen, nur einen mäßig ausgeprägten Menschenverstand, aber es verlangt Schwieriges. Wir müssen einen blinden Fleck erhellen und für unsere Wahrnehmung erschießen. Diesen großen Schritt für die Menschheit haben wir heute großteils hinter uns und erkennen die Welt als endlichen Raum, der Menschen in einem sensiblen und hoch komplexen Ökosystem Lebensräume bietet. Bei aller Begeisterung für Wohlstand und für Reichtum, bei allem Verständnis für die Liebe zum Automobil und zu schönen Kleidern, was nützt uns all der Kram, wenn uns Hurrikans, Flutwellen, Muren und Waldbrände die letzten Unterhosen rauben? Langsam können wir zumindest in Europa (oder vielleicht doch gerade jetzt in den USA?) von einem Bewusstseinswandel sprechen und einer neuen Welt beim Entstehen zusehen.
Neben der Welt der Steigerung, die es auch in Zukunft geben wird, erblickt die Welt der Ankunft das Licht der Sonne. Der Soziologe Gerhard Schulze hat eine Gesellschaft, in der Steigerung und Ankunft ihren fixen Platz haben, als schönste aller Welten vorskizziert. Neben dem Wachsen, darf es ein Auskommen im geschaffenen Möglichkeitsraum geben. Auch die UNO hat für diesen Mix aus Steigerung und Ankunft ein Programm – die Agenda 21 – entworfen und nennt diese neue Form der gesellschaftlichen Entwicklung die nachhaltige Entwicklung. Dabei steht Steigerung für nachhaltige Entwicklung und Ankunft für Nachhaltigkeit.
Wo bleibt die Wirtschaft? Wir warten schon so lange!
Wir könnten annehmen, dass die Wirtschaft die Veränderungen in der Gesellschaft schnell wahrnehmen und für sich nutzen würde. Wiederum bleibt nur zu sagen: Weit gefehlt. Die Wirtschaft hat vor lauter Globalisierung, vor lauter Shareholdervalue-Untertänigkeit den Kontakt zu den Menschen schon fast verloren. Keine Trendforschung und keine Meinungsumfragen bringen zu Tage, was längst Realität ist. Gesellschaft und Wirtschaft sprechen schon zwei verschiedenen Sprachen. Während die Gesellschaft das Weltbild des mechanistischen Denkens abstreift wie eine alte Schlangenhaut und sich einem ganzheitlichen Bewusstsein annähert, bleibt die Wirtschaft der alten Steigerung im Denken treu und verhält sich wie eine Dampflok auf Nostalgiefahrt.
Auch wenn es immer sinnvolle Handlungsmöglichkeiten für Unternehmungen gibt, so ist doch verständlich, warum die Wirtschaft und ihre Politik stur auf Steigerungskurs bleibt. Es gibt keine gute Alternative zum Steigerungsmodell. Denker wie Smith, Marx und Keynes sind in der Wirtschaftswissenschaft heute seltener geworden. Wenn das alte Modell schon nicht mehr zukunftsträchtig ist und keine guten Aussichten mehr bietet, so ist es doch das einzige, von dem wir mit Recht sagen können, dass es Erfolg gebracht hat. Aus Mangel an Alternativen dürfen auch die KritikerInnen die ManagerInnen der Steigerungswirtschaft in einer Demokratie nur freisprechen. Wer hat schon gewusst, dass es auch einen Wirtschaftsraum der Nachhaltigkeit gibt?
Herzlich,
Heinz Peter Wallner
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